Die vielen Facetten im Fall Susanna: Immer neue Details, immer neue Fragen
Interessant was man im Wiesbadener-kurier zu lesen bekommt!
Seit Sonntagabend sitzt der 20-jährige Ali B. in Untersuchungshaft. Er hat sowohl in einer ersten Vernehmung bei der Wiesbadener Polizei in der Nacht zum Sonntag und dann am Sonntagnachmittag gegenüber der Haftrichterin des Amtsgerichts Wiesbaden gestanden, die 14–jährige Susanna F. aus Mainz getötet zu haben.
Er habe dabei Wissen preisgegeben, dass nur ein Täter oder bei der Tat Beteiligter haben kann. Susannas Leiche war am Mittwoch bei Wiesbaden-Erbenheim gefunden worden.
Es habe keine Mittäter gegeben, soll der junge Iraker, ein abgelehnter Asylbewerber, erklärt haben. Er will auch alleine die Leiche vom Tatort weggeschafft und in einem schwer zugänglichen Geländestreifen vergraben haben. Wie in anderen Fällen wird man auch hier diesen Teil des Geschehens bei einer Rekonstruktion im Gelände näher beleuchten wollen. War es alleine möglich?
Mitwisser gab es schon. Ali B. soll sich später unter anderem auch seiner Mutter anvertraut haben. Deren Lösung sei die überhastete Flucht der Eltern und ihrer sechs Kinder aus der Flüchtlingsunterkunft in Wiesbaden-Erbenheim gewesen. Im Herbst 2015 war die Familie nach Deutschland gekommen. Mit dem Flugzeug ging es auf der Flucht schnellstens zurück in die Autonome Region Kurdistan im Norden des Irak. Dort, nahe der türkischen Grenze, war Ali B. in der Nacht zum Freitag von kurdischen Sicherheitskräften festgenommen und nach Deutschland überstellt worden. Mit Sicherheitsvorkehrungen in Deutschland, wie sie zuvor bei 20-jährigen dringend Tatverdächtigen der allgemeinen Kriminalität kaum praktiziert wurden. Es ähnelte der Inszenierung eines Staates. Sollte mit den martialisch wirkenden Bildern wie bei einem Terrorverdächtigen nach außen in die Bevölkerung Stärke demonstriert werden?
Mitwisser oder weitere Tatbeteiligte?
Von dem Verbrechen gewusst hat auch ein 13-Jähriger aus der Flüchtlingsunterkunft. Der Junge hatte sich am Sonntag, 3. Juni, bei der Polizei gemeldet. Susanna sei tot, getötet von Ali B. Das habe ihm der Iraker selbst geschildert. Und zwar schon sehr zeitnah nach der Tat. Erst nach der Flucht von Ali B. und dessen Familie aus der Unterkunft hatte der Junge offenbar Mut genug, sich der Polizei anzuvertrauen. Das wirft die Frage auf, ob der junge Iraker in der Unterkunft so sehr gefürchtet werden musste. Und es ist eine der schwer nachzuvollziehenden kriminalistischen Facetten des Falles, dass der mutmaßliche Täter den Jungen auch noch gefragt haben soll, ob er ihm beim Beseitigen der Leiche helfen könne.
Ali B. hat entgegen anderslautender Behauptungen in der hochemotional geführten Diskussion kein Vorstrafenregister. Denn das setzt eine rechtskräftige Verurteilung voraus. Er ist polizeibekannt, Verfahren gegen ihn sind aber keine eröffnet. Und es hat bei einem der schwerwiegendsten Fälle, einem mutmaßlichen schweren Raub, nicht gereicht, den jungen Mann in Untersuchungshaft zu stecken. Weil es neben dem dringenden Tatverdacht noch einen Haftgrund geben muss. Ein fehlender fester Wohnsitz hätte ein solcher Haftgrund sein können – Ali B. hatte aber mit der Flüchtlingsunterkunft in Erbenheim einen solchen festen Wohnsitz.
In den Diskussionen werden rechtsstaatliche Prinzipien zur Seite gewischt auch in der Frage, warum ein abgelehnter Asylbewerber wie er überhaupt noch in Deutschland sein dürfte. Wäre er abgeschoben worden, hätte das Verbrechen nicht geschehen können, so die plakativ formulierte Kette. Fakt ist, dass er rechtlich gar nicht abgeschoben werden konnte. Gegen den ablehnenden Bescheid hatte er im Januar 2017 Klage beim Verwaltungsgericht Wiesbaden einreichen lassen, und die Klage hat aufschiebende Wirkung. Ein rechtsstaatliches Prinzip.
„Bedauerlicher Fehler“ bei der Polizei
Am 17. Mai 2018, wenige Tage vor Susannas Tötung, wurde der Wiesbadener Polizei bekannt, dass der Iraker auch im Verdacht steht, eine Elfjährige in der Flüchtlingsunterkunft vergewaltigt zu haben. Täter soll ein „Ali“ gewesen sein. Bei der Pressekonferenz zum Fall Susanna hatte Wiesbadens Polizeipräsident Stefan Müller am Donnerstag von einem „Flüchtlingsmädchen“ gesprochen. Das ist falsch. Müller war, wie er sagt, bei der Fülle der Informationen „ein bedauerlicher Fehler“ unterlaufen. Das Kind ist Deutsche. Für den erhobenen Tatvorwurf spielt die Ethnie oder Staatsangehörigkeit keine Rolle. Opfer ist Opfer. Es gibt aber Stimmen, die Müllers Verwechslung als bewusste Unterdrückung von Fakten interpretieren.
Eine solche Deutung ergibt keinen Sinn, weil Polizei und Staatsanwaltschaft bei besagter Pressekonferenz in großer Offenheit vor laufenden Kameras und vielen Mikrofonen über den Fall Susanna und über den dringend Tatverdächtigen Ali B. informiert hatten. Einigen Kriminalisten soll das schon zu viel der Offenheit gewesen sein. Der Vater der Elfjährigen hatte den Fall der Polizei gemeldet, am 18. Mai sollte das Kind daraufhin befragt werden. Eine einfühlsame Befragung, Untersuchungen und die Vorlage von Fotos sind in solchen Fällen üblich, um einen Verdacht erhärten zu können. Zumal in der Unterkunft vier Personen mit dem Vornamen „Ali“ gemeldet gewesen sein sollen. Wer von Ihnen könnte es gewesen sein?
Bis heute war nach Auskunft der Ermittler die Befragung des Mädchens nicht möglich. Ali B. sei bei seiner Vorführung am Sonntag vor der Haftrichterin zu diesem möglichen Tatvorwurf nicht befragt worden, so der Wiesbadener Oberstaatsanwalt Oliver Kuhn. „Es ist nicht Gegenstand des Verfahrens, weswegen Herr B. in Untersuchungshaft genommen wurde.“ Man habe in den nächsten Wochen Zeit, auch diesen Vorwurf gegen den jungen Iraker aufzuarbeiten.
Welche Rolle spielen Rocker der „Black Devils“?
Für Diskussionsstoff sorgt, dass zwei Mitglieder der Rockergruppe „Black Devils“ „als Begleitung“ einer Schwester der Elfjährigen an deren Schule auftauchten. Als Grund nannten sie, die Schwester sei bedroht worden. Aus der Flüchtlingsunterkunft heraus: Sie solle nicht so viel über Ali B. erzählen. Zu dem längst von vielen Gerüchten begleiteten Kriminalfall zählt auch jenes, dass nun Rocker für Sicherheit sorgen müssten. Tatsächlich soll es ein privater Freundschaftsdienst und nicht mehr gewesen sein. Weil auch die Polizei bei diesem Freundschaftsdienst an der Schule ins Spiel kam, wurde wild spekuliert.
Spekuliert wird auch schon darüber, welche Strafe dem mutmaßlichen Täter Ali B. im Fall Susanna droht. Dabei ist man noch weit von einer Anklage entfernt. Ali B. war zum Zeitpunkt der Tat, wenn er angeklagt wird, 20 Jahre alt. Demnach ein Heranwachsender. Paragraf 105 des Jugendgerichtsgesetzes sieht dafür vor: Das Gericht hat zu prüfen, ob die „Gesamtwürdigung des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand“. Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre. „Handelt es sich bei der Tat um Mord und reicht das Höchstmaß (…) wegen der besonderen Schwere der Schuld nicht aus, so ist das Höchstmaß 15 Jahre.“ Besondere Schwere liegt vor, wenn gegenüber vergleichbaren Delikten eine deutlich höhere Schuld des Täters vorliegt. Darüber hat das Gericht auf der Grundlage von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu befinden.
Es gibt noch viele offene Fragen, und manche sind unangenehm. Warum hat die Mutter ihre 14-jährige Tochter erst einen Tag nach ihrem Verschwinden bei der Polizei in Mainz als vermisst gemeldet? War Susanna zuvor öfters über Nacht weg? Als am Abend des 23. Mai Vermisstenmeldung erstattet wurde, war das Mädchen längst tot. Bittere Wahrheit. Susanna soll noch in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai getötet worden sein. Auch ein schnelles und wie auch immer geartetes Handeln der Polizei nach der Vermisstenmeldung hätte dieses Tötungsdelikt nicht verhindern können. Zu den gewiss unangenehmen, aber notwendigen Fragen gehört auch, warum sich junge Mädchen, ob nun elf, zwölf, 13 oder 14 Jahre alt, ohne elterliche oder andere Aufsicht unkontrolliert in Wiesbadener Flüchtlingsunterkünften aufhalten können.