Anklage zeigt, wie es zur Blut-Tat von Hameln kam
Es sind genau 208 Meter von der Königsstraße 8 bis zum Imbiss „Goldhähnchengrill“ in Hameln. Diese Strecke, über Asphalt und Kopfsteinpflaster, rast am frühen Abend des 20. November 2016 ein VW-Passat mit hoher Geschwindigkeit.
Am Steuer sitzt wohl Nurettin B., auf dem Rücksitz sein zweijähriger Sohn Cudi. An der Anhänger-Kupplung ist ein Seil befestigt, daran hängt Kader K., die Ex-Frau des Fahrers und Mutter von Cudi. Schreiend, schwer verletzt. Vor dem Restaurant löst sich das Seil zufällig. Die bewusstlose Kader K. wird notoperiert, liegt wochenlang im Koma. Die 28-Jährige überlebt. Ab Montag steht ihr Ex-Mann wegen versuchten Mordes vor dem Landgericht Hannover.
Für den Anwalt von Kader K. ist es ein „absolutes Wunder“, dass seine Mandantin überhaupt noch lebt. Der erfahrene Strafrechtler Roman von Alvensleben sagt: „Ich habe kaum einen Fall erlebt, wo die Absicht zu töten, so deutlich zu erkennen ist.“
Menschenverachtende Brutalität
Tatsächlich lässt sich aus der Anklage der Staatsanwaltschaft Hannover, die FOCUS Online vorlegt, zweierlei erkennen: Zum einen, wie sich der Konflikt zwischen Nurettin B. und Kader K. über viele Monate hinweg zuspitzte und dann in der Horror-Tat einen blutigen Höhepunkt fand. Zum anderen, mit welcher menschenverachtenden Brutalität der mutmaßliche Täter Nurettin B. vorgegangen ist.
Nurettin B. und Kader K. haben beide kurdische Wurzeln. Sie heirateten nach islamischen Recht im März 2013, im Januar 2014 kam ihr Sohn zur Welt. Schon im Mai 2015 trennten sie sich. Vor und nach der Trennung soll der heute 39-Jährige, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, die Frau immer wieder geschlagen und wüst beschimpft haben. Die Verfahren wurden aber alle eingestellt. Ein ständiger Streitpunkt zwischen den beiden: Geld.
Nurettin B. kam seinen Unterhaltsverpflichtungen offenbar nicht nach, ihm drohte die Zwangsvollstreckung und seine Ex-Frau betrieb eine Lohnpfändung. Am 22. Oktober 2016 soll Nurettin B. seiner Ex-Frau gedroht haben, dass einer der beiden bald nicht mehr leben werde. Sie zeigte ihn an, die Polizei warnte ihn im Rahmen einer sogenannten Gefährderansprache. Nurettin B. versprach Besserung. Ganz offensichtlich eine Lüge.
Eskalation am 20.November
Denn am Abend des 20. November eskalierte der Streit. Laut Anklage spielte sich um 18 Uhr vor der Königstraße 8 folgendes ab: Zunächst geraten Nurettin B. und Kader K. wegen der Unterhaltsforderungen aneinander. Nurettin B. beleidigt seine Ex-Frau. Dann prügelt er auf sie ein. Er holt ein Messer hervor und sticht auf die am Boden liegende Kader K. ein.
Er trifft ihren Bauch, ihren Herzbeutel. Doch Nurettin B. reicht dies nicht. Aus seinem Auto schnappt er sich eine Axt und schlägt mit der stumpfen Seite auf Kopf und Oberkörper seines Opfers ein. Er hat immer noch nicht genug. Er greift sich ein ebenfalls im Auto bereitliegendes Seil, bindet es um den Hals von Kader K. und befestigt die andere Seite an der Anhängerkupplung. Mit Cudi auf der Rückbank rast er mit Vollgas los. In einer Kurve löst sich das Seil, Kader K. wird vor den „Goldhähnchengrill“ geschleudert.
Ihr mutmaßlicher Peiniger fährt derweil zu einer Polizeiwache in Hameln. Den verdutzten Beamten verkündet er ohne weitere Erklärungen: „Ich war‘s, ich war‘s.“ Erst als sie von der Fahndung aus dem Polizeifunk hören, nehmen sie ihn fest.
Sohn hat Tat mitbekommen
Kader K. wird in ein künstliches Koma versetzt, sie muss monatelang im Krankenhaus bleiben. Erst Mitte März wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen, sagt ihr Anwalt. Sie kann wieder laufen, doch vor seiner Mandantin stehen viele Herausforderungen. Noch immer leidet sie unter den körperlichen Folgen der Tat, hat Schmerzen. Inwieweit sie bleibende Schäden, vor allem des Kopfes, davontragen wird, ist unklar. Sie will eine Traumatherapie machen, um die Tat seelisch zu verarbeiten. Auch ihr Sohn braucht psychologische Hilfe, er hat das Grauen trotz seines Alters mitbekommen, sagt Anwalt von Alvensleben. „Er wacht in der Nacht auf und ruft ‚Mama, aua‘.“
Eine große Herausforderung für Kader K. ist der nun beginnende Prozess. Den Namen ihres Ex-Mannes nimmt sie nicht mehr in den Mund, er ist für sie nur noch „der Täter“, sagt von Alvensleben. Sie will vor Gericht aussagen, auch wenn sie sich kaum an den Abend erinnert. „Sie will, dass die Tat mit der Härte des Gesetzes gesühnt wird.“
Verteidiger sieht Affekttat
An der Täterschaft von Nurettin B. gibt es wenig Zweifel. Schwierig für das Gericht dürfte aber die Suche nach einer angemessenen Strafe sein. Theoretisch kann ein versuchter Mord milder bestraft werden als ein vollendeter Mord. Etwa, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat nur vermindert schuldfähig war. Die Verteidigung dürfte entsprechend versuchen, die Tat als Affekttat darzustellen.
Der Anwalt von Nurettin B., Matthias Waldraff, sagte dem NDR vor einigen Wochen: “Es ist ein grauenvolles, extremes Geschehen, das aber nicht zum Vorfallszeitpunkt einen eiskalt planenden und abwägenden, nüchtern vorgehenden Täter hat, sondern jemanden, dessen Seelenleben, dessen Zustand völlig zerstört war.” Nurettin B. habe unter einer “extremen seelischen Angespanntheit” gelitten. Die Tat sei das Ergebnis einer sehr komplexen längeren Entwicklung gewesen, an dessen Ende Hilflosigkeit in Hass umgeschlagen sei.
Es spricht aber vieles dafür, dass er die Tat geplant hat, was sich strafverschärfend auswirken dürfte. Nicht nur, dass Nurettin B. das Messer, die Axt und das Seil mit sich führte. In seinem Auto wurde auch ein Zettel gefunden, auf dem er sich offenbar seinen Frust über die Unterhaltsforderungen von der Seele schrieb und die Tat anzukündigen scheint. Unter anderem heißt es dort, er wolle in Frieden leben. „Game over“. Kader Ks. Anwalt sieht deshalb wenig Anlass, die Höchststrafe – lebenslange Haft – zu mindern. „Für meine Mandantin ist er ihr Mörder.“