Und plötzlich ist da diese fremde Hand am Po
Fast jede Wiesn-Besucherin weiß, wie sich Belästigung anfühlt. Doch die wenigsten gehen zur Polizei – weil die Übergriffe längst normal sind.
Was “normal” ist auf der Wiesn, das weitet sich jedes Jahr aus. Betrunkene um zehn Uhr morgens in der U-Bahn: normal. Spuren von Erbrochenem rund um die Festwiese: normal. Dass Frauen im Bierzelt mit einem Griff an den Busen rechnen müssen: für die meisten auch normal.
Früher Abend im Löwenbräuzelt, die Runde ist mit der ersten Mass fast fertig, man steigt auf die Bänke und prostet den unbekannten Tischnachbarn zu, im Bierzelt bleibt man ja nicht lange fremd miteinander. Die Kapelle spielt “Griechischer Wein”, man schunkelt, die Tischnachbarn schunkeln mit. Und auf einmal ist da diese Hand auf dem Po. Sie ist nicht aus Versehen da. Sie packt zu, bleibt, ruht sich aus. Was tun? Dem Eigentümer der Hand eine ordentliche Watschn geben? Einen der Security-Männer rufen? Der den Grapscher aus dem Zelt wirft, wenn er einem denn glaubt und wenn nicht zu viel anderes los ist? Vielleicht ruft der sogar die Polizei?
Nicht, dass der Tischnachbar furchteinflößend wäre. Er ist eher schmächtig, jungenhaftes Gesicht, Gelfrisur, bestimmt vier Mass Vorsprung. Trotzdem schiebt man dann die Hand nur weg. Sagt nein, sagt, dass man das nicht möchte, und tut sonst nichts. Bringt ja nichts, denken die meisten Frauen, und tauschen lieber mit dem Bekannten auf der anderen Tischseite die Plätze. Ausweichen als Strategie.
Wie schlimm die Situation für Frauen auf der Wiesn ist, das war dieses Jahr schon Monate vor dem Start Thema – wegen Köln. Nach den Übergriffen in der Silvesternacht verwiesen Feministinnen auf zahlreiche Übergriffe auf dem Oktoberfest. Dabei kursierten Zahlen, die Polizei und Frauenhilfe-Einrichtungen als viel zu hoch gegriffen zurückwiesen. Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr 26 Sexualdelikte angezeigt, darunter zwei Vergewaltigungen und zwei versuchte Vergewaltigungen.
Bei der Polizei heißt es, man sei nach den Ereignissen in Köln besonders wachsam. Die Zahl der Vorfälle ist bislang vergleichbar mit der vom vergangenen Jahr. Auch beim Security Point der Aktion “Sichere Wiesn” kommt man auf ähnliche Zahlen, der Besucherrückgang mache sich nicht bemerkbar, sagt Kristina Gottlöber. Die Teams von Amyna, Imma und dem Frauennotruf München kümmern sich um Frauen, die Hilfe brauchen – ob es um einen schweren Übergriff geht oder darum, dass das Handy verloren gegangen ist und man die Freunde nicht wiederfindet. Etwa 200 Frauen betreuen sie jedes Jahr.
Beinahe täglich landet ein Übergriff in den Pressemeldungen. Immer wieder wehren sich Frauen, auch mal mit dem Masskrug. Eine Amerikanerin hat das im vergangenen Jahr vor Gericht gebracht – als Angeklagte. Schuldig gesprochen wurde sie nicht, aber eine Geldauflage zahlen musste sie am Ende doch. Von den allermeisten Fällen dürften allerdings weder die Polizei noch die Sichere-Wiesn-Teams etwas mitbekommen. Denn auch wenn sie im Vergleich zu den Vergewaltigungen harmlos wirken: Am häufigsten sind nicht die schweren Übergriffe, sondern die Sprüche, die Belästigungen, die Griffe in der Menge.
Die Ausfälle sind so normal, dass Frauen oft gar nicht erst auf die Idee kommen, damit zur Polizei zu gehen. Auch, weil das bedeutet, dass der Abend auf der Wiesnwache endet. So gut wie jede Münchnerin kann eine solche Geschichte vom Oktoberfest erzählen. Meistens tut sie es nicht, weil sie dann zu hören bekommt, dass man auf der Wiesn damit zu rechnen habe. Oder weil sie meint, sich durch einen Flirt selbst in die entsprechende Situation gebracht zu haben.
Die Debatte nach Köln hat etwas gebracht, findet Gottlöber. Den feministischen Aktivistinnen ging es ja darum, zu betonen, dass sich auf der Wiesn jedes Jahr unzählige Männer daneben benehmen, Bayern, Münchner, Touristen, Flüchtlinge. Das bestätigt auch die Polizei: Unter den Tatverdächtigen sind die verschiedensten Männer. Die Kölner Silvesternacht und die Wiesn sind nicht vergleichbar – auch, weil die Wiesn einzigartig ist. Das macht sie so schön, und so gefährlich. “Die Wiesn ist ja auch ein wunderbarer Ort zum Flirten”, sagt Gottlöber. Aber ob sich beide einig sind, dass es ein Flirt ist, ist von außen oft nicht zu erkennen.
Ein Lederhosenträger fährt mit seiner Zunge über ihr Gesicht
Da ist das Mädel im Schottenhamel, braune Haare, vielleicht 20, die Augen wie abwesend. Der Tanzpartner schleudert sie durch den Gang und fängt sie mit einem sicheren Griff von hinten oben in den Dirndl-Ausschnitt wieder auf, einmal, zweimal, dreimal, sie scheint es nicht mitzubekommen. Zwei Minuten im Stehbereich des Hofbräuzelts, schon stellt sich Chris aus Chicago vor, eigentlich ganz nett, der Chris, aber vier Minuten später geht sein Kumpel zu einer Mexikanerin und legt ihr ungefragt die Hand um die Taille, es sind die ersten Worte, die er mit ihr spricht. Sie lächelt, versucht, die Hand auf Distanz zu halten, schiebt sich selbst weg. Dann küsst sie demonstrativ ihren Freund. Neben dem Armbrustschützenzelt sucht eine Blonde mit ihrer Zungenspitze nach dem letzten Krümel Pommes in der spitzen Tüte, ein Lederhosenträger fährt mit seiner Zunge über ihr Gesicht, sie schreit auf.
Am Ende wird alles auf das Bier geschoben
Man muss nicht mal ein Dirndl tragen oder betrunken sein, obwohl Grapscher sich oft die besonders wehrlosen Ziele aussuchen. Manche nutzen den Schutz der Masse, und am Ende kann man sowieso alles auf den Alkohol schieben. Kristina Gottlöber sagt: Auch deshalb sei die ohnehin niedrige Anzeigenquote bei Sexualstraftaten auf dem Oktoberfest besonders gering.
Studien zufolge werden 84 bis 99 Prozent der Übergriffe nicht angezeigt. Am Security Point landen immer wieder Frauen, die durch eine Berührung im Bierzelt retraumatisiert wurden, bei denen also die Erinnerung an einen länger zurückliegenden Missbrauch wieder hochkommt. Was die eine Frau als schlimm empfindet, kann für die andere harmlos sein. Es ist immer nur sie selbst, die das entscheiden kann.
Selbst wenn man unter dem Po-Griff im Löwenbräuzelt nicht leidet: Was bleibt, ist das Gefühl, zu wenig getan zu haben, und ein Kopfschütteln. Darüber, wie sehr man damit rechnet. Und darüber, was der Grapscher wohl bezwecken wollte. Denkt er denn wirklich, eine Frau fällt einem Fremden willig in die Arme, weil der ihr an den Hintern gegriffen hat? Das könnte man so einen mal fragen. Beim nächsten Mal dann.
Quelle: Süddeutsche
Foto: Andreas Gebert/dpa