Nach Angriff auf Obdachlosen

Nach Angriff auf Obdachlosen

Eine Gruppe junger Männer hat in Berlin einen Obdachlosen angezündet. Streich oder Mordversuch? Und welche Rolle spielt es, dass es sich um Flüchtlinge handelt? Vor Gericht sucht man nach Antworten.

Vorne rechts, am unteren Rand des Bildausschnitts, ist die Flamme gut zu erkennen. Zuerst ist sie nur ein heller Fleck, genau in der Ecke zwischen Rückenlehne und Armstütze der grünen Holzbank und dem von einer weißen Decke verhüllten Bündel, das regungslos auf der Sitzfläche liegt. Dann aber flackert es. Qualm steigt auf, und kurz darauf ist das Feuer so groß, dass man Rot- und Gelbtöne unterscheiden kann. Sonst passiert nichts.

Die jungen Männer, die eben rund um die Bank zu sehen waren, haben ihre Kapuzen übergezogen, sind davongeschlendert und nur noch klein am oberen Rand des Kamerasichtfeldes zu sehen. Sonst ist der Bahnsteig leer. Das Feuer brennt und brennt. Eine, vielleicht zwei Minuten dauert das, die Sekunden dehnen sich ins Unerträgliche. Denn jeder im Saal weiß: Unter der weißen Decke schläft ein Mann. Die Flammen lodern direkt neben seinem Kopf.

Es ist mucksmäuschenstill in Saal B129 des Landgerichts Berlin. Über der Balustrade zum Zuschauerraum ist eine Leinwand heruntergelassen worden, auf der Überwachungsvideos vom U-Bahnhof Schönleinstraße gezeigt werden. Es ist Freitag, der zweite Verhandlungstag in dem Prozess gegen eine Gruppe junger Flüchtlinge, die in der Weihnachtsnacht 2016 versucht haben soll, einen Obdachlosen anzuzünden. Die erschütternden Bilder bilden das Fundament der Anklage: versuchter Mord.

Nach Überzeugung des Staatsanwalts haben die mutmaßlichen Täter „billigend in Kauf genommen“, dass ihr wehr- und argloses Opfer Feuer fangen und „qualvoll verbrennen“ würde. Der Hauptangeklagte, ein 21 Jahre alter Palästinenser aus Syrien, habe erst ein Stück Papier, in einem zweiten Anlauf ein brennendes Taschentuch neben das improvisierte Kopfkissen des Obdachlosen geworfen, dessen in eine Plastiktüte gewickelten Rucksack. „Grundsätzlich weiß man, dass Plastik sehr gut brennt“, sagt der Staatsanwalt.

Glaubhaft gequälte Mienen

Zum Glück bleibt der Mann auf der Bank unverletzt. Nach einer gefühlten Ewigkeit fährt auf der Leinwand in Saal B129 eine U-Bahn ein. Ein Mann weckt den Schlafenden und tritt die Flammen aus. Eine Frau kippt Bier über das angekokelte Holz. Den Rest besorgt der U-Bahn-Fahrer mit dem Feuerlöscher.

Der Fall war an Symbolik kaum zu übertreffen und löste eine Welle der Empörung aus. Ausgerechnet an Weihnachten, wenn die meisten Menschen hierzulande in christlicher Tradition mehr oder weniger selig um ihre Tannenbäume herum sitzen, vergreifen sich ausgerechnet Flüchtlinge an einem Menschen, der in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten steht. Das Entsetzen war groß.

Nun hat unter großem Medienandrang der Prozess gegen sieben junge Männer begonnen. Einer ist nur wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt; trotzdem zittert der Aktendeckel in der Hand des Siebzehnjährigen, der seinen gepflegten Undercut vor den Kameras versteckt. Kapuzensweatshirts zu Nike-Sneakern, zarter Oberlippenflaum hier, ein kantiges Kinn, eine tiefe Stirn dort: Die Angeklagten sind 16 bis 21 Jahre alt, sechs stammen aus Syrien, einer aus Libyen. Glaubhaft gequälte Mienen. Als routinemäßig die Personalien festgestellt werden, hat der Hauptangeklagte nicht einmal sein Geburtsdatum und seine Anschrift korrekt parat. „Das sind keine harten Jungs“, sagt einer der Verteidiger. „Das sind ganz normale Jugendliche.“

Die Lebensverhältnisse der Angeklagten unterscheiden sich stark

Inwiefern der Prozess, der bis Mitte Juni dauern soll, auch Einblicke in die Zu- und Missstände der Berliner Flüchtlingshilfe geben wird, muss sich zeigen. Die Lebensverhältnisse der Angeklagten jedenfalls unterscheiden sich stark. Der 17 Jahre alte Ayman S. zum Beispiel, sonniges Lächeln und eine Vorliebe für Flecktarnmuster, lebt mit seinen Eltern und der ein Jahr jüngeren Schwester in einer ganz normalen Wohnung.

Die palästinensische Familie hat bereits ihr drittes Weihnachten in Deutschland gefeiert, mit Verwandten und arabischem Essen. Ayman besuche eine Schule zur Berufsorientierung, erzählt die Schwester, eine strahlende Hübsche mit hochgestecktem Haar; er habe eine in Deutschland geborene Araberin zur Freundin. „Er ist ganz lieb“, sagt sie über den Bruder, fassungslos darüber, was er getan haben soll.

Auch die Familie des 19 Jahre alten Mohamad Al-J. hat eine eigene Wohnung – allerdings zu elft. Die anderen Angeklagten sind als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, im Zuschauerraum sitzen Vormünder. Mohammad M. und Eyad S. sprechen so gut deutsch, dass sie die Verhandlung am liebsten ohne Übersetzung bestreiten würden. Der 18-jährige Khaled A. wird nach der Verhandlung von den Betreuerinnen aus seiner Wohngruppe herzlich umarmt. Bashar K., der jüngste, Weihnachten noch 15 Jahre alt, besaß zuletzt gar keine Anschrift.

Nachdem er nach anderthalb Jahren in Deutschland immer noch keinen regulären Platz in der Jugendhilfe hatte und wieder einmal von einem Wohnheim ins nächste verschoben werden sollte, ist er seinen Betreuern weggelaufen. Weder die abgebende noch die aufnehmende Einrichtung verständigten seinen Vormund. In dieser unheiligen Nacht 2016 galt er schon fünf Tage als vermisst.

Ein Bild des Jammers im Gerichtssaal

Richtige Freunde waren die jungen Männer nicht. Man kannte sich mehr oder weniger flüchtig und hatte am späten Weihnachtsabend teilweise zufällig zusammengefunden. Erste Station Alexanderplatz. Dann Zeittotschlagen am Kottbusser Tor. Weil die U-Bahn zum Hermannplatz erst in 13 Minuten kommt, startet man zu Fuß, um dann doch am Bahnhof Schönleinstraße zu warten.

Auf den Überwachungsvideos lässt sich erahnen, wie zäh so ein Abend sein kann. Ewige Minuten hocken die Jugendlichen auf der grünen Holzbank, auf der der Obdachlose schläft. Einige beschäftigen sich mit ihren Handys, jemand dreht eine Zigarette. Hin und wieder wechseln die Positionen.

Nur der Kleinste in der Gruppe, der in Wirklichkeit der Älteste ist und an diesem Abend auch noch eine kirschrote Jacke trägt, fällt auf. Im Gerichtssaal ist Nour N. ein Bild des Jammers. Auf dem U-Bahnhof gibt er den Zampano. Er tigert umher, schwadroniert gestenreich, grinst breit. Während Mitangeklagte erklären, sich von Alkohol und Drogen fernzuhalten, listet er vor Gericht seinen Heiligabend-Konsum auf: Erst zwei Joints, dann „zwei Linien Heroin“, später Ecstasy, weitere Haschzigaretten, viel Wodka. Als das Nichtstun rund um die Bank schon beim Zuschauen ermüdet, bückt sich Nour N., zieht etwas aus der Hosentasche und macht sich neben dem Kopf des Obdachlosen zu schaffen.

Auch die Mitangeklagten distanzieren sich von bösen Absichten

„Es trifft zu, dass ich derjenige bin, der für das Legen des Feuers verantwortlich gewesen ist“, heißt es in der Erklärung, die sein Anwalt für ihn verliest. Zugleich bestreitet Nour N., dass er den Schlafenden ernsthaft in Gefahr habe bringen wollen. Vielmehr spricht er von einem Streich, nicht ohne anzufügen: „Ich traue mich selbst eigentlich nicht mehr, es so zu bezeichnen.“ Weiter heißt es: „Ich habe darauf vertraut, dass nichts Schlimmes passieren wird. Ich schäme mich wirklich sehr für das, was ich getan habe.“ Ihm sei bewusst, dass seine Tat ein schlechtes Bild auf andere Flüchtlinge werfe. Während der Anwalt die Erklärung im Saal verteilt, wischt Nour N. sich Tränen aus den Augen.

Auch die drei Mitangeklagten, die sich am Freitag zu dem Mordvorwurf einlassen, distanzieren sich von bösen Absichten. Sie beteuern, wie froh sie seien, der Gewalt in ihrer Heimat entkommen zu sein und dass sie nichts gegen Obdachlose hätten. Aber vor allem sind ihre Erklärungen der Versuch, gegen die Macht der Bilder zu argumentieren. Denn man kann ja zusehen auf der Leinwand in Saal B129, wie die Männer zunehmend neugierige Blicke werfen auf das weiße Bündel auf der Bank.

Wie sie die Kapuzen überziehen, nachdem einer direkt in die Überwachungskamera geblickt hat (Mohammad M.: „Zur Abgrenzung, ich wollte mit dieser Sache nichts zu tun haben“). Der kollektive Abmarsch nach der Zündelei (Mohamad Al-J.: „Ich wollte nur weg“). Die beschwingte Stimmung bei der Weiterfahrt, aufgezeichnet in der U-Bahn, die Gesichter gelöster als in der Lethargie zuvor (Khaled A.: „Wenn ich belustigt wirkte, war das Ausdruck meiner Hilflosigkeit über die Situation“).

Öffentliches Interesse sei größer, weil die Täter Flüchtlinge sind

Eine Tonspur hat das Video nicht; Bilder sind interpretationsfähig. Damit der angebliche Streich als Mordversuch gewertet werden kann, muss den Angeklagten etwas nachgewiesen werden, das Juristen Eventualvorsatz nennen. „Kann jemand, der in unmittelbarer Nähe des Kopfes ein Feuer entzündet, darauf vertrauen, dass letztlich nichts passiert?“, fragt der Staatsanwalt. „Das ist die entscheidende Frage.“

Dass die Angeklagten Flüchtlinge sind, scheint jedenfalls weniger für die Tat als für den Wirbel darum maßgeblich.

Etwa zehn Obdachlose in Deutschland kommen jedes Jahr durch Übergriffe aus der Mehrheitsgesellschaft zu Tode. Diese Zahl von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, die Gewalt gegen Obdachlose dokumentiert, ist seit vielen Jahren gleich. Dieses Jahr gab es schon fünf Fälle, bei denen Schlafsäcke angezündet oder Hab und Gut in Brand gesetzt wurden. Aber Flüchtlinge als Täter? „Das hatten wir bisher noch nie“, sagt Werena Rosenke, stellvertretende Geschäftsführerin des Verbands.

Wenn die Täter Deutsche seien, sei das öffentliche Interesse jedoch leider geringer. Das Muster der Berliner Tat passt derweil zu Erkenntnissen der Kölner Polizeiwissenschaftlerin Daniela Pollich: Gewalt gegen Obdachlose werde typischerweise von jüngeren Tätern in Gruppen begangen. Und: „Die Täter können oft gar nicht genau sagen, warum sie das gemacht haben.“

Der Obdachlose unterdessen, der in der Weihnachtsnacht sein Leben hätte verlieren können, wird voraussichtlich gar nicht vor dem Landgericht erscheinen. Er wird als Zeuge nicht benötigt. Der Mann stammt aus Polen und ist 37 Jahre alt. Am Ende des Überwachungsvideos steht er mit hängenden Schultern neben der grünen Bank. Auf dem Boden Spuren von Löschschaum, seine Decke hält er im Arm. Der Bahnsteig ist wieder verwaist. Fassungslos starrt er auf die angekokelte Stelle, neben der eben noch sein Kopf gelegen hat.

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/nach-angriff-auf-obdachlosen-unheilige-nacht-15014441.html

Foto: dpa

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen