Die ungezählten Obdachlosen

Die ungezählten Obdachlosen

Niemand weiß, wie viele Menschen in Deutschland keine Wohnung haben, eine offizielle Statistik gibt es nicht. Ein gemeinnütziger Verein versucht die Zahl der Obdachlosen möglichst genau zu schätzen und sagt: Es werden immer mehr

Das Statistische Bundesamt ist eine sehr fleißige Behörde. Wer in der von ihr betriebenen Datenbank stöbert, kann herausfinden, wie viele weiblichen Schafe in Deutschland zum Zweck der Zucht gehalten werden. Wie viele Kilometer Bus- und Bahnlinien es je Bundesland in gibt. Wie groß die Trockenmasse des jährlich in Deutschland entsorgten Klärschlamms ist und wie viele Tonnen Rohöl pro Jahr durch Fernrohre gepumpt werden.

Nur auf eine Frage weiß das Statistische Bundesamt keine Antwort: Wie viele Menschen in Deutschland haben keine Wohnung? Über die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen gibt es keine Statistik.

Die “Bundesstatistiken entstehen grundsätzlich auf Basis einer nationalen Rechtsvorschrift und/oder eines Rechtsakts der EU”, heißt es beim Statistischen Bundesamt. Die Bundesstatistiker zählen nur das, was ihnen der Bundestag aufträgt. Eine Wohnungslosenstatistik lehnte die Bundesregierung bisher ab: Es läge näher, die Daten auf Landes- und Kommunalebene zu sammeln, antwortete das Sozialministerium 2015 auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen. Es sei zwar sinnvoll, dafür einheitliche Standards einzuführen, aber selbst das “obläge allerdings nicht dem Bund”.

Christian Kühn, wohnungspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, kann diese Argumentation “angesichts der Dramatik der Situation” nicht nachvollziehen. “Wenn man Politik machen will, muss man wissen wovon man redet”, sagt Kühn, “und das beginnt bei den Zahlen.”

Die verfügbaren Schätzungen, auf die man sich mangels amtlicher Statistik stützen muss, deuten auf einen starken Anstieg der Obdachlosenzahlen. Als beste Quelle gilt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), ein unter anderem von Arbeiterwohlfahrt, Caritas und Diakonie getragener Verein. Sie kommt für das Jahr 2016 auf 422.000 Wohnungslose, ein Anstieg um 15 Prozent gegenüber 2014. Dazu kommen noch einmal 436.000 wohnungslose Flüchtlinge, die großteils noch in Asylbewerberunterkünften wohnen, obwohl sie bereits anerkannt oder geduldet sind.

Fast 90 Prozent der Wohnungslosen haben zwar kein eigenes Zuhause mit Mietvertrag, aber dennoch irgendeine Art von Dach über dem Kopf. Sie kommen etwa in Notunterkünften oder bei Bekannten unter. Etwa 52.000 Menschen leben in Deutschland komplett auf der Straße, schätzt die BAGW. Sie werden als Obdachlose bezeichnet.

Wobei die Organisation eben wirklich nur schätzen kann. Im Zwei-Jahres-Rhythmus schauen sich BAGW-Geschäftsführer Thomas Specht und sein Team eine ganze Reihe von Indikatoren an: Wie haben sich die Mietpreise entwickelt? Wie die Arbeitslosigkeit? Wie viel gebaut, wie viel Sozialwohnungen gibt es? Dazu kommt eine Umfrage bei ein paar Dutzend Kommunen, für die Flüchtlinge wertet Strobl inzwischen auch das Ausländerzentralregister aus. Aus all diesen Parametern schätzen die BAGW-Leute ab, ob die Zahl der Wohnungslosen gegenüber der vorherigen Erhebung wohl gestiegen oder gesunken ist – und wie stark. Diese Zahl dient dann wiederum als Grundlage für die zwei Jahre später errechnete Folgeerhebung. Ausgangspunkt ist eine Hochrechnung der Gesellschaft für innovative Sozialforschung aus dem Jahr 1994. Seither gibt es lediglich in Nordrhein-Westfalen eine durchgängige Zählung, die sich zum Abgleich heranziehen lässt.

Die Wohnungslosen-Schätzung gleicht einer Reihe von gewagten Sprüngen, von Eisscholle zu Eisscholle immer weiter weg vom Festland der Tatsachen, hinaus auf den stürmischen Ozean der Unsicherheit.

Doch es sind die einzigen Zahlen, die man hat. “Die BAGW mach eine super Arbeit, ohne die wüssten wir gar nichts”, sagt der Grüne Christian Kühn.

Die BAGW selbst gibt die Unsicherheit ihrer Werte mit einer Spanne von plus/minus zehn Prozent an. Statistiker, die die Berechnungen geprüft haben, halten das für plausibel. Für die aktuelle Schätzung bedeutet das, dass es vielleicht nur 380.000 Wohnungslose gibt, vielleicht aber auch 464.000.

Thomas Specht weiß um die Schwächen seiner Methode. “Eine Fortschreibung ohne Korrektur der Basis ist fehleranfällig”, sagt er. Auch die BAGW fordert deshalb eine amtliche Statistik. Im Gegensatz zur BAGW könnten die Bundesstatistiker bei der jeder Gemeinde und jedem Sozialträger die Zahl der dort bekannten Wohnungslosen abfragen und zusammentragen. Diese Methode wäre nicht nur zuverlässiger und genauer, sie würde es auch ermöglichen, die Situation differenziert nach Regionen und nach demografischen Merkmalen der Betroffenen wie Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund auszuwerten.

Vor allem aber würde eine amtliche Statistik dem Thema eine ganz andere Beachtung zukommen lassen. Einmal in jedem Jahr, wenn die jeweils neuen Zahlen erscheinen, würde es eine offizielle Mitteilung dazu geben, vielleicht eine Pressekonferenz, und dementsprechendes Echo in den Medien. Viel Aufmerksamkeit also für ein unbequemes Thema.

“Die Bundesregierung verschließt die Augen vor dem Problem”, sagt der Grüne Christian Kühn. Dabei könne man es kaum übersehen: Unter den Brücken am Spreebogen, in der Bushaltestelle vor dem Reichstag: Obdachlose leben in unmittelbarer Nähe der Politik.”

Vielleicht bringt der zuletzt starke Anstieg der Wohnungslosen doch noch Bewegung. “Häufig sind zwar individuelle Schicksale ausschlaggebend für den Verlust der Wohnung”, sagt Kühn, “aber die Fälle nehmen zu, wenn die Mieten steigen.” Die gestiegene Zuwanderung verschärft die Situation, ebenso der Niedergang des sozialen Wohnungsbaus.

Diese Entwicklungen könnten dazu führen, dass nun doch noch Bewegung in die Angelegenheit kommt. Die Bundesregierung schreibt in ihrem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht, sie möchte “auf eine bundeseinheitliche Statistik hinwirken”. Zuständig sollen jedoch weiterhin die Länder sein. Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sagt dazu, “entsprechende Entscheidungen und weitere Aktivitäten auf diesem Feld bleiben einer neu zu bildenden Bundesregierung vorbehalten.”

Quelle: http://www.sueddeutsche.de/politik/statistik-die-ungezaehlten-obdachlosen-1.3802913

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