Es gibt kein Entkommen

Es gibt kein Entkommen

“Wenn man sich diesen Bericht durch liest, weiß man warum unsere Gäste hier zu lande denken Frauen wären Freiwild”.

Fast jede Frau in Ägypten ist laut einer Studie der Vereinten Nationen schon mal sexuell belästigt worden. Omnia ist eine von ihnen.

Omnia solle mal so richtig hart rangenommen werden. Dieser Hintern, diese Brüste! Er mustert ihren Körper. Er habe schon eine Erektion, sagt er. Will sie nicht mit zu ihm nach Hause kommen? Omnia geht weiter die Straße entlang, versucht die Sprüche zu ignorieren: „Hey Süße, du Hure, ich will dich ausziehen.“ Drei Kommentare in fünf Minuten. Die junge Frau hat sich daran gewöhnt.

Nichts hat sich geändert seit damals vor vier Jahren, als sie mit ihren Freundinnen die Hauptstraße ihrer Heimatstadt in Oberägypten entlanglief. Ein junger Mann auf dem Fahrrad fasste ihr beim Vorbeifahren in den Schritt. Er hielt an und grinste, sie stand nur da und war wie erstarrt. An die restlichen Minuten erinnert sie sich kaum. Sie war 16.

Manchmal sagen sie nur „Hey, Hübsche“, manchmal „Musa“ – Banane, eine Anspielung auf ihren kurvigen Körper. Manchmal, dass sie große Brüste, eine große Vagina habe. Manchmal, was sie gerne mit ihr machen würden.

Omnia schämt sich, wenn sie darüber spricht; nimmt schnell einen Zug ihrer Zigarette und bläst den Rauch über ihren Kopf hinweg aus dem geöffneten Fenster in ihrer Wohnung im Kairoer Stadtteil Dokki. Die Geräusche der Stadt wehen in den Raum: Hundegebell, Autos. Kinder, die auf der Straße spielen. Wenn ihre Brüder wüssten, dass sie mit Männern zusammenlebt, vor ihnen in kurzen Hosen auf dem Sofa liegt, regelmäßig kifft und ab und zu Männerbesuch hat, würden sie sie wahrscheinlich umbringen, sagt sie.

Im Jahr 2013 war Ägypten das schlechteste Land für Frauen – gefolgt vom Irak, Saudi-Arabien und Syrien. Das zeigt eine Studie der Thomson Reuters Stiftung. Neben Zwangsehen und der grassierenden Praxis der Zwangsbeschneidung ist es vor allem die tägliche sexuelle Belästigung, die zu dem Ergebnis führte.

Die sexuelle Belästigung verbindet Ägypterinnen, egal, ob reich oder arm, gebildet oder nicht, gläubig oder atheistisch. Nach einer Studie der Vereinten Nationen wurden 99,3 Prozent der Ägypterinnen schon einmal gegen ihren Willen von Männern angefasst oder haben verbale sexuelle Belästigung erlebt. Erst 2014 wurde das in Ägypten zu einem Straftatbestand erklärt – mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten Gefängnis. Wenn es nicht Worte oder Handgriffe sind, dann sind es Blicke. „Die Männer glotzen immer“, sagt Omnia. Heute, sagt sie, habe sie gelernt, das auf der Straße auszublenden. Die Männer zur Rede zu stellen sei zu anstrengend – und zu gefährlich.

Die Situation vieler Männer ist aussichtslos. Wer heiraten will, braucht Geld. Die Familien vieler zukünftiger Bräute erwarten eine Eigentumswohnung und einen guten Job vom potentiellen Ehemann. Die Einrichtung der Wohnung zahlt traditionellerweise auch zur Hälfte der Mann. Viele junge Männer können diese Erwartungen aber nicht erfüllen. Als Folge bleiben sie alleinstehend. Gleichzeitig gehört Ägypten zu den Ländern mit dem höchsten Pornokonsum der Welt.

In der traditionell geprägten ägyptischen Gesellschaft übernimmt der Mann nach wie vor die Verantwortung und trifft viele Entscheidungen für seine Frau. Die hat in vielen konservativen Familien Hausfrau und Mutter zu sein. Omnia zog deshalb vor zwei Jahren nach Kairo, weil sie von einem liberalen Lebensstil ohne Kontrolle träumte. „Ich wollte raus aus meinem Gefängnis“, sagt sie. „Und nicht aus dem Gefängnis meines Elternhauses in das Gefängnis der Ehe.“

In Kairo leben junge Frauen zwar freier. Es ist heute einer der liberalsten Orte in den arabischen Ländern. „In Kairo oder Alexandria kann jeder leben, wie er will“, sagt Omnia. „Solange man es nicht offen auslebt.“ Doch auch hier sind Frauen täglich sexueller Belästigung ausgesetzt: im Taxi, auf der Straße und im Supermarkt. Während der Proteste am Tahrirplatz 2011 wurden Hunderte Frauen sexuell belästigt, viele von ihnen vergewaltigt.

Mustafa sagt, die Frauen seien selbst schuld

Omnia studiert Politikwissenschaften. Doch um sich ein Leben in Kairo zu ermöglichen, arbeitet sie im Callcenter eines internationalen Anbieters für Bargeldtransfer. Für umgerechnet etwa 180 Euro im Monat, 45 Stunden in der Woche. Vor ein paar Wochen fuhr sie wie jeden Tag im Bus zur Arbeit, als ein Mann auf sie zu kam. Er war etwa Vierzig, sah wie ein Familienvater aus, ordentlich gekleidet. Er setzte sich neben sie und nach einiger Zeit fing er an, sein Bein an ihres zu pressen und zu reiben. Nach etwa einer Minute bemerkte sie, was er tat und schrie, er solle aufhören. Der Mann drehte sich weg und sagte, er habe doch gar nichts getan. Irgendwann verließ sie den Bus. Körperliche Belästigungen wie diese passieren ihr mehrmals im Monat, sagt Omnia. Jemand fasst sie am Arm, sagt ihr, dass sie schön sei, dass er sie haben wolle, oder berührt sie am Hintern.

Seit sie nach Kairo zog, war sie viermal zu Hause. Ein Grund für die seltenen Besuche ist die Fahrt. Die Studie der UN besagt, dass rund 82 Prozent der Frauen regelmäßig in öffentlichen Verkehrsmitteln belästigt werden. „Allein als Frau im Zug nach Oberägypten zu sitzen ist widerlich“, sagt Omnia. Da Männer jedes Mal ihr Aussehen kommentierten, trägt sie im Zug das Kopftuch, das sie eigentlich längst abgelegt hat.

Auch die sozialen Netzwerke sind Orte der sexuellen Belästigung. Viele Frauen, die etwas in Gruppen posten, erhalten danach unzählige Freundschaftsanfragen und Nachrichten von fremden Männern. Häufig schreiben deshalb männliche Bekannte im Auftrag ihrer Freundinnen Wohnungsinserate oder sonstige Anfragen. Omnia fand in ihrem Postfach bei Facebook schon Nachrichten von Fremden vor, die fragten, ob sie Lust auf Sex habe. Die Männer schickten auch Fotos ihrer Genitalien.

Mustafa ist 26 und Lehrer für Islam und Geschichte. Er kennt Omnia nicht, aber er kennt Frauen wie sie: ohne Kopftuch, liberal, atheistisch. In seinem Weltbild verstoßen solche Frauen gegen alles, was er für richtig zu halten gelernt hat. Er kommt aus Quina in Oberägypten, dem südlichen Teil des Landes, das viel konservativer ist als Kairo. Er selbst ist mit seiner 17 Jahre alten Cousine verlobt. Dass Omnia belästigt und angefasst wird, habe sie verdient, sagt Mustafa. Denn es sei ihr eigener Fehler, sich so zu kleiden und zu leben – nicht gläubig zu sein: „Wenn ich sie auf der Straße sähe, würde ich sagen: Bitch, du bist billig! Sie hat keine Moral, ist keine Muslimin, sondern ist schamal – falsch. Ein schlechtes Mädchen und eine Schande.“ Mustafa sagt: „Ich würde sie auch fragen, ob sie ficken will.“ Denn für ihn ist Omnia aufgrund ihres Lebensstils Freiwild.

Auch Ahmed belästigte Frauen. Er fasste sie an den Brüsten und am Hintern an. Für ihn war das selbstverständlich: Frauen seien Menschen zweiter Klasse, die sich verhüllen und zu Hause bleiben müssen. Jene, die sich an diese Regeln nicht halten, dürfe man behandeln wie man will – so hatte er es gelernt. Er wuchs in Saudi-Arabien auf, wurde in seiner Kindheit oft selbst sexuell belästigt, von Lehrern und Predigern.

Als sich die sogenannte Arabellion in den Ländern Nordafrikas ausbreitete, begann Ahmed über Politik und Gesellschaft nachzudenken, zu lesen und in sozialen Netzwerken zu diskutieren. Über Demokratie und Freiheit und das, was damit verbunden war: gleiche Rechte, auch für Frauen. Er verliebte sich in eine Feministin. Sein Weltbild veränderte sich. Ahmed beteiligte sich an der Initiative „HarassMap“. Er bot Frauen, die zwangsverheiratet werden sollten, Zuflucht an; half ihnen, selbständig zu werden, veranstaltete Seminare, verteilte Flyer an der Uni, ging auf die Straße.

Heute, sechs Jahre nach der Revolution, ist sein Optimismus dem beklemmenden Gefühl gewichen, nichts ausrichten zu können. Das Problem scheint zu groß, um es zu lösen: Laut der Initiative „HarassMap“ gaben in Umfragen 77 Prozent der Männer an, bereits selbst Frauen sexuell belästigt zu haben.

Die Sicherheitskräfte machen mit

Es gibt keine einfache Erklärung, warum so viele Männer in Ägypten Frauen belästigen. Man weiß lediglich, woran es nicht liegt. So ergab eine Studie von „HarassMap“, dass der soziale und finanzielle Status eines Mannes keine Rolle dabei spielt, ob dieser belästigt oder nicht. Auch ob er verheiratet ist, hat keinen Einfluss auf sein Verhalten. Die Bildung des Täters scheint ebenfalls unerheblich: 75 Prozent der Befragten haben einen Universitätsabschluss. Auch Alter, Verhalten oder Kleidung der Frauen liefern keine Erklärung. So trugen nach einer Studie des „Egyptian Center for Women’s Rights“ 72 Prozent der belästigten Frauen Kopftuch oder Nikab. Aber auf die Frage einer UN-Studie, warum sie Frauen belästigten, antworteten 73 Prozent der Männer, die Kleidung der Frauen sei zu aufreizend gewesen.

Sexuelle Belästigung ist für Aktivisten wie Ahmed vor allem Ausdruck von Aggression, Macht und Gewalt in einer hierarchischen Gesellschaft, in der Frauen als Schwächere betrachtet werden. Die hohe Bevölkerungsdichte und die Ungleichheit zwischen beiden Geschlechtern seien die Hauptgründe, wieso Frauen immer wieder widerlich angegangenen werden, sagt Helen Rizzo, Soziologin von der American University in Kairo: „Es hängen einfach sehr viele Männer auf den Straßen herum, die dann oft auch gegenüber Freunden angeben wollen.“ Den Männern sei laut Rizzo oft nicht klar, wo der Unterschied zwischen Belästigung und Flirten liege.

Teil des Problems sind die Sicherheitskräfte. In Ägypten sind die meisten Männer verpflichtet, Militärdienst zu leisten. Sie müssen in den Straßen der ägyptischen Städte patrouillieren. Manchmal liegen sie stundenlang auf den Ladeflächen der alten und oft auch verdreckten Militärfahrzeuge an der Strandpromenade Alexandrias und gaffen den vorbeilaufenden Frauen nach.

Einmal zielte ein Soldat Omnia auf der Tahrir-Straße in Kairo mit seinem Gewehr ins Gesicht und sagte: „Ich bring dich um.“ Dabei lachten er und seine Kameraden. „Diese Männer geben sich selbst die Lizenz zum Belästigen“, sagt Omnia.

Laut der UN-Studie suchten nur etwa sechs Prozent der Frauen, die solche Übergriffe erleben mussten, Hilfe bei Polizisten. Viele gaben an, nicht ernst genommen oder gar verspottet worden zu sein. Einige Frauen wurden von ihnen sogar sexuell belästigt, als sie die Tat melden wollten.

Omnia musste schon häufig solche Schikanen ertragen. Als sie nach einer Schicht im Callcenter gegen Mitternacht nach Hause lief, bemerkte sie, dass ihr ein Mann folgte. Er holte sie ein, sprach sie an und zeigte ihr seinen Polizeiausweis. Sie fragte, ob etwas nicht stimmte. „Es ist 12 Uhr nachts, und du läufst allein draußen herum. Was denkst du, wer du bist“, habe der Polizist geantwortet.

Nur die wenigsten Fälle werden angezeigt. Die Frauen fürchten um ihr Ansehen, einige haben Angst vor der Reaktion ihrer Familien. Manche Mütter raten ihren Töchtern, weite Röcke und langärmlige Oberteile zu tragen, selbst bei 40 Grad. Damit die Männer draußen nichts von ihrer Haut sehen. Auch Omnias Mutter sagte ihr, sie sollte entweder weitere Kleidung tragen oder ganz zu Hause bleiben. „Meine Mutter vermittelte mir, es sei meine Schuld, wenn ich belästigt werde.“

Omnia hat einen einfachen Wunsch

Ahmad hat den Kampf aufgegeben. Studenten, die sich öffentlich engagierten und gegen etwas protestierten, würden exmatrikuliert. Gegen Aktivisten gehe die Regierung vor. „Die Lage ist gefährlich“, sagt er. „Der Kampf für Menschenrechte braucht eine bestimmte Atmosphäre, doch es gibt kaum noch Leute, die mitmachen und sich trauen.“ Und das aus gutem Grund: Laut Angaben des Arabischen Netzwerks für Menschenrechtsinformationen hat das Land heute rund 60.000 politische Gefangene. Die Situation für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Menschenrechtsaktivisten ist in den vergangenen Monaten schwieriger geworden: Verhöre, das Einfrieren von Geldern und Reisesperren sind gängige Mittel der Regierung, um ihnen die Arbeit zu erschweren.

Präsident Abdel-Fattah Al-Sisi stellt sich zwar als Verteidiger der Frauenrechte dar und besuchte sogar Frauen, die Übergriffe überlebten, im Krankenhaus. Gleichzeitig schränkt er jedoch die Arbeit von NGOs weiter ein. Auch das Anti-Belästigungsgesetz sei nur schwer anzuwenden, sagt Soziologin Rizzo. Es gibt zwar einige Organisationen, die sich dem Ziel verschrieben haben, Betroffenen von sexueller Gewalt zu helfen. Sie bieten kostenlose psychologische Betreuung und einen Rechtsbeistand. Doch den meisten Frauen ist gar nicht bewusst, dass sie dort Hilfe erhalten können. „Man muss Frauen zunächst einmal klarmachen, dass Belästigung nichts ist, das man einfach hinnimmt oder vergeben muss“, sagt Omnia.

Ahmad sieht den Grund für dieses fehlende Bewusstsein in der Scharia. Männer würden so erzogen, dass sie in der Hierarchie ganz oben stünden – dass Frauen ihr Eigentum seien. Bis jetzt gibt es in Ägypten kein Gesetz, dass Vergewaltigung innerhalb der Ehe strafbar macht. Rechtlich ist es nicht einmal ein Scheidungsgrund.

Omnia hat einen einfachen Wunsch: „Ich will anziehen, was ich möchte, und abends alleine durch die Straßen laufen, ohne sexuell belästigt zu werden.“

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/sexuelle-belaestigung-in-aegypten-omnias-geschichte-15219865.html

 

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