Opfer sollen nicht mehr Opfer heißen

Opfer sollen nicht mehr Opfer heißen

Die Missy-Autorin Mithu Sanyal will aus Opfern „Erlebende“ machen. Dudenfest. Initiativen von Terre des Femmes bis Störenfriedas protestieren scharf! Sie erklären: „Vergewaltigung ist kein Konzertbesuch.“ Kulturwissenschaftlerin Sanyal hingegen möchte einen Begriff mit „höchstmöglicher Wertungsfreiheit“.

Seit Mithu Sanyal im Sommer 2016 ihr Buch „Vergewaltigung“ herausbrachte, ist die Kulturwissenschaftlerin immer wieder mit erstaunlichen Thesen zum Thema in Erscheinung getreten. So hatte die Missy-Autorin zum Beispiel beklagt, dass es „im Vergewaltigungsskript nur zwei Geschlechter gibt: Täter und Opfer. Wer Vergewaltigung sagt, denkt an aggressive Männer und ängstliche Frauen, an Penisse als Waffen und Vaginas als ungeschützte Einfallstore.” Und sie fuhr fort: “Oder weniger martialisch: an Männer, die meinen, ‚ein Recht’ auf Frauenkörper zu haben.“

In einem Spiegel-Interview wurde Sanyal gefragt: „Sie kritisieren die Fixierung auf Frauen als Opfer. Aber in den meisten Fällen ist das so. Und die Täter sind Männer.“ Sie antwortete schlicht und unwidersprochen: „Das stelle ich infrage.“

Nicht der Opferdiskurs degradiert Opfer, sondern Täter

Was stellt Sanyal infrage? Die Realität? Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt: Es gab im Jahr 2015 7.095 angezeigte Vergewaltigungen, davon waren 6.732 weibliche Opfer, das macht 95 Prozent. Für Sanyal scheinen das old fashioned facts, ein gestriger „Opferdiskurs“. Die Kulturwissenschaftlerin möchte von solcherlei Peinlichkeiten nichts mehr hören: Das Geschlecht von Tätern und Opfern ist für sie keine Kategorie. Sie will, zumindest rein sprachlich, die Opfer ganz abschaffen. Die sollen in Zukunft besser „Erlebende“ heißen. Und wo es keine Opfer gibt, existieren auch keine Täter. Wie praktisch.

Der Begriff „Opfer“, so erläutert Sanyal in ihrem Text in der taz, sei nämlich „keineswegs ein wertfreier Begriff, sondern bringt eine ganze Busladung von Vorstellungen mit. Wie die, dass Opfer passiv, wehrlos und ausgeliefert sind – und zwar komplett.“ Das sei ungünstig, denn „wenn mir jemand erzählt, dass er oder sie einmal einen Autounfall gehabt hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir ‚Autounfall’ durch ‚Vergewaltigung’ ersetzen.“ Ach so.

Statt der Frage nachzugehen, was der Unterschied zwischen einem Autounfall und einer Vergewaltigung aus der Perspektive des Opfers sein könnte, erklärt die Missy-Autorin lieber einfach: „Doch keine Sorge, es gibt eine Lösung!“ Nämlich: Opfer nennen sich nicht länger Opfer, sondern „Erlebende“. Denn „das Wort ‚Erlebende’ trifft noch keine Aussagen über Motivation und Rollenverteilungen. Klassische Binaritäten wie aktiv/passiv werden aufgebrochen.“ Schließlich sei es „wichtig, einen Begriff zur Verfügung zu haben, der höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, ‚Erlebende’ in den Duden aufzunehmen.“

Höchstmögliche Wertungsfreiheit. Hört sich gut an. Wer will denn da auch schon wieder gleich werten, nur weil ein Kind oder eine Frau – und im Ausnahmefall auch ein Mann von, in der Regel, einem Mann – vergewaltigt worden ist?!

Über Sanyals groteske „Lösung“ sind nicht nur Opfer so empört, dass sie einen Offenen Brief lanciert haben. Auf dem Portal des Bloggerinnen-Kollektivs „Die Störenfriedas“ erklären sie: „Opfer sexueller Gewalt zu ‚Erlebenden’ zu machen, lässt die Gewalt aus dem Sprachgebrauch verschwinden.“ Denn: „Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist eine Tat, vorrangig begangen von Männern an Frauen und Kindern. Von Erlebenden zu sprechen, bedeutet, die Tat selbst euphemistisch zum Erlebnis umzudeuten, ähnlich einem Konzertbesuch oder einem Urlaub.“

Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis, sondern ein Verbrechen

u den ErstunterzeichnerInnen des Offenen Briefes gehören Mitglieder zahlreicher Organisationen und Initiativen, von Terre des Femmes bis #ichhabenichtangezeigt, von der „Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt“ bis Sisters, von Femen bis „One Billion Rising“. Sie erklären: „Es ist nicht der Opferdiskurs, der Opfer degradiert. Es sind die Täter, nicht die Selbstbeschreibung der Opfer. Keine noch so euphemistische Umdeutung kann die Tat für ein Opfer ungeschehen machen, sehr wohl aber für den Rest der Gesellschaft – wie außerordentlich praktisch!“ Und schließlich: „Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist ein Verbrechen.“

Wäre es nicht so ernst, wäre es einfach nur noch komisch.

Quelle: EMMA

Foto: Imago

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen