„Schätzle, da war jemand!“ – dann der Schock

„Schätzle, da war jemand!“ – dann der Schock

In Heilbronn steht ein Asylbewerber vor Gericht, der eine Rentnerin ermordet haben soll. Auf die Wand schmierte er: „It’s payback time“. Tötete er aus religiösen Gründen? Ein Geständnis fehlt.

Alles an ihm wirkt kläglich: die spindeldürre Gestalt, der ängstliche Blick, die ungelenken Bewegungen, wenn er, festgehalten von zwei Uniformierten, auf den Stufen zum Gerichtssaal zu stolpern droht. Seine Hände und Füße sind mit Ketten aneinandergefesselt. Nur der dichte schwarze Bart und sein volles Haupthaar setzen einen anderen, einen kräftigen Akzent. Und sein Verhalten natürlich. Denn anfangs begehrt er auf.

Gegen den Richter, den Vorsitzenden der Heilbronner Schwurgerichtskammer, Roland Kleinschroth, denn er will einen anderen Richter. Gegen den Pflichtverteidiger, den er nicht mag. Er will etwas sagen, eine Geschichte erzählen. Er will, dass alle ihm zuhören, und zwar auf der Stelle. Und dann folgen Worte wie blumige Arabesken, die ein schwäbisches Gericht, das kurze Antworten auf klare Fragen verlangt, rigoros unterbindet.

Zeugen werden vernommen. Er will dazu etwas sagen, er will seinen Kommentar abgeben. „Fragen dürfen Sie stellen“, sagt der Vorsitzende, erst noch milde gestimmt, „aber keine Geschichten erzählen!“ Der Angeklagte will aber nicht fragen, sondern gehört werden. Der Vorsitzende raunzt die Verteidigung an, sie solle ihrem Mandanten die Regeln des deutschen Strafprozesses beibringen.

Ist er verrückt oder spielt er?

Der Angeklagte, der einen Verband am Arm trägt, redet unbeeindruckt weiter. Kleinschroth wird lauter: „Jetzt rede ich! Und den Verband nehmen Sie ab! Er ist nicht ärztlich verordnet!“ „Ich will meinen Verband behalten!“, widersetzt sich der Angeklagte. Es stellt sich heraus, dass der Verband offenbar aus Bändern besteht, die der Angeklagte von einem Landsmann als Glücksbringer bekommen hat. Er darf ihn trotzdem nicht tragen.

Zu Beginn des Prozesses gegen Abubaker Ch. – alias Abubaker L. alias Abubaker L. Ch. Ali – einen Pakistaner, der wohl in Saudi-Arabien als Sohn einer pakistanischen Familie 1988 oder 1989 geboren wurde, stellt sich die entscheidende Frage in dreifacher Hinsicht: Ist der Angeklagte verrückt? Oder spielt er nur verrückt? Oder verstehen wir ihn und die Welt, in der er zu Hause zu sein scheint, einfach nicht? Einem Gericht, das hier Antworten finden muss, wird viel abverlangt. Alltag heute in der deutschen Justiz.

Wäre da nicht der psychiatrische Sachverständige Kristian Olav Rosenau. Zu ihm, der dem Angeklagten wirklich zuhört, hat Ch. inzwischen offenbar als Einzigem Vertrauen gefasst. Rosenau erklärt den Richtern, dass bei Ch. keine psychischen Störungen vorlägen und es keinen Anlass gebe, an dessen Schuldfähigkeit zu zweifeln. Der Angeklagte rede nicht aus Renitenz immer wieder dazwischen: „Fragen zu stellen bedeutet in seinem Erleben Schwäche, Unkenntnis und Unterlegensein“, so der Sachverständige. Und dies versuche er, in der ihn ängstigenden Situation als Angeklagter zu vermeiden.

Angeklagter will auf Augenhöhe sein

Wenig Freundliches ist von den Zeugen über den Angeklagten zu hören. Sie beschreiben Ch. als arrogant, sprechen von seiner herablassenden, frechen Art oder von einem „unguten Gefühl“, das sie im Kontakt mit ihm beschlich. Einzelne, wie seine ehrenamtliche Betreuerin, erinnern sich dagegen an einen höflichen, gebildeten, intelligenten jungen Mann.

Warum geht er mit nach vorn zum Richtertisch, wenn die Obduktionsfotos erörtert werden? Davor schrecken die meisten Angeklagten zurück. Rosenau: „Wichtig ist für ihn, mit den Prozessbeteiligten auf Augenhöhe zu sein. Er will dabei sein, will dazugehören. Tatsächlich hat er die Fotos nicht angeschaut, sondern zu Boden geblickt.“

Ch. soll in der Nacht des 18. auf den 19. Mai 2016 in das Anwesen eines älteren Ehepaares bei Heilbronn eingedrungen sein und die Frau, die wohl schon schlief, umgebracht haben. Er soll sie mit einem Telefonkabel und einem Schal sowie einer Stoffbordüre stranguliert haben, während ihr Ehemann im Nebenzimmer schlief und von dem Verbrechen nichts mitbekam. Erst am nächsten Morgen, als der Hausherr geöffnete Schubladen und Schränke entdeckte und in das Schlafzimmer seiner Frau stürmte mit dem Ruf: „Schätzle, da war jemand!“ – der Schock. Die Frau reglos unter der Bettdecke, das Gesicht entstellt, ganz seltsam lag sie da, wie aufgebahrt. Ihre Hände waren mit einem Schal gefesselt und um ein hölzernes Kruzifix gefaltet.

Angeblich ein religiöses Motiv

Nach dem Verbrechen hatte der Täter offenbar nicht sofort das Haus verlassen, sondern auf Schranktüren, auf eine Handtasche und ein Kehrblech mit rotem Stift arabische Schriftzeichen geschrieben: schwer zu deutende, zuweilen auch unverständlich erscheinende Anrufungen islamischer Märtyrer und den Satz „It’s payback time“.

Daraus und aus wirren Äußerungen in der ersten Vernehmung Ch.s schloss die Staatsanwaltschaft , dass er die Frau möglicherweise als „Ungläubige“, getötet haben könnte. Doch niemand aus seinem Umfeld weiß bei Ch. von religiösem Fanatismus.

Der Islamwissenschaftler Rüdiger Seesemann, den das Gericht zu Rate zog, widersprach denn auch dem in der Anklage genannten Motiv. Einen religiösen Hintergrund könne er nicht erkennen: „Für mich erschließt sich kein Sinnzusammenhang zwischen den Schriften und der Tat.“ Der Schreiber, der sprachliche Probleme habe, leide offenbar an einer „verwirrten religiösen Identität“.

Tüte voller Wertsachen gefunden

War die Tat demnach ein gewöhnlicher Einbruch eines jungen Mannes, der auf Wertsachen aus war und von einem Ferrari träumt, wie ein Zeuge berichtete, und dem dann unerwartet eine ältere Frau in die Quere kam? Ch. ersuchte 2013 um Asyl. In seiner Heimat hatte er nicht um Leib und Leben bangen müssen. Doch in Deutschland, so erfuhr er von Schleppern, könne man viel Geld verdienen und ein gutes Leben haben. Also machte er sich auf den Weg, der zwei Jahre dauern sollte und viel Geld kostete.

In Ch.s Unterkunft fanden die Ermittler eine Schatulle mit zehn Damenuhren, 30 Halsketten, Armbändern und diversen Ohrsteckern. Und das Handy der Getöteten und das ihres Mannes. Ch. aber bestritt. Er will nicht einmal in der Nähe des Tatorts gewesen sein. Er habe die Wertsachen am Heilbronner Bahnhof in einer Tüte gefunden und mitgenommen, sagte er zunächst. Dann, in der Hauptverhandlung, änderte er diese Aussage. Er habe am Abend zuvor von einem Landsmann eine Tablette bekommen, sagte er nun, die bei ihm einen Blackout bis zum nächsten Morgen verursacht habe. Er erinnere sich an nichts.

Die Ermittlungen jedoch ergaben, dass Ch. wohl über einen Kellerschacht in das Haus eingedrungen war. Dort manipulierte er die Telefonkabel so, dass Anrufe weder ein- noch ausgehen konnten. Dann nahm er die Handys des Ehepaares an sich und tötete offenbar die Frau. Dabei hinterließ er eine DNA-Spur, die ihm mit einer Wahrscheinlichkeit von sage und schreibe 1:2,8 Quadrilliarden zuzuordnen ist.

Nach der Tat in aller Ruhe das Haus durchsucht

Täuschte Ch. mit den Schriftzeichen ein religiöses Motiv vor, um die Ermittler auf eine falsche Spur zu locken? Tobias Göbel, Anwalt der Hinterbliebenen, ist davon überzeugt. Er macht auf Ch.s strategisch folgerichtiges Verhalten aufmerksam. „Er brach in das Haus ein und sorgte erst einmal dafür, dass eine Kommunikation nach draußen unmöglich war. Dann tötete er die Frau und durchsuchte in aller Ruhe das Haus nach Wertgegenständen.“

Voraussichtlich wird Ch. aber vor allem anhand der Funkzellenvermessung und der GPS-Daten zu überführen sein, da sein Mobiltelefon zur Tatzeit am Tatort mehrfach registriert wurde. Auch fand man heraus, dass das Handy des Ehemannes um 3.17 Uhr früh angeschaltet wurde. „Der Mann schlief da“, fügt der Vorsitzende mit vielsagendem Blick hinzu. „Da kann man zwei und zwei zusammenzählen.“

Kurz vor Ende des Prozesses sagt Ch. resigniert, er wolle „nicht mehr in diesem Leben bleiben“. Er kündigt eine Erklärung an. Doch ein Geständnis, auf das die Angehörigen des Opfers gehofft hatten, bringt er bis zuletzt nicht über die Lippen. Also wird das Gericht wohl Staatsanwaltschaft und Nebenklage folgen, die eine lebenslange Freiheitsstrafe und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld beantragten.

Quelle: Welt

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