Missbrauch in Afghanistan “Die Tanzknaben vom Hindukusch “

Missbrauch in Afghanistan “Die Tanzknaben vom Hindukusch “

In Afghanistan halten sich einflussreiche Männer Jungs im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren zum erotischen Zeitvertreib. Die UN wollen dagegen vorgehen. Doch das „Knabenspiel“ hat Tradition.

Die Party soll in einem Industriegebiet am Stadtrand von Kabul stattfinden. Kurz nach 22 Uhr hält der Wagen vor einer unbeleuchteten Hofeinfahrt. Ein Schäferhund springt bellend gegen das Gatter. Der Gastgeber, ein rundlicher Mann, trägt eine grüne Uniform, an der Brust allerlei Abzeichen. Er ist der Polizeichef in einem Distrikt zwei Autostunden nördlich von Kabul, seinen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Zusammen mit einem Dutzend seiner Männer hat er es sich zwischen Computern und Büromöbeln bequem gemacht. Es gibt Wodka aus Kaffeebechern, geraucht wird Haschisch.

Der Polizeichef hat einen Jungen mitgebracht, auch er in Polizeiuniform. Er ist vielleicht 16 Jahre alt, mit auffällig weichen Gesichtszügen. Und er ist einer der Tanzknaben des rundlichen Mannes. „Setz dich“, befiehlt er ihm. Der Junge gehorcht. Er nimmt aber nicht auf einem der Sofas Platz, sondern rollt sich zu Füßen des Polizeichefs zusammen – wie ein Hund. Dann streicht er sich affektiert mit der einen Hand die Haare glatt. In der anderen hält er eine Maschinenpistole. Die braucht er, denn er ist auch der Leibwächter des Polizeichefs. An diesem Abend hätte er sich ein Kleid überstreifen und mit Rasseln an Händen und Füßen für seinen Chef und dessen Gäste tanzen sollen. Weil der Lautenspieler kurzfristig abgesagt hat, fällt sein Tanz aber aus.

Dafür gibt es dann Filmchen zu sehen, die der Polizeichef auf seinem Smartphone gespeichert hat. Jungen tanzen in einem Raum, umgeben von johlenden Männern. Sie zucken aufreizend mit Schultern und Hüften, werfen der Kamera Kusshände zu. Geldscheine rieseln auf ihre Köpfe nieder. Der Polizeichef zeigt auch zwei Filme mit tanzenden pakistanischen Huren. Die Jungen seien ihm aber lieber, sagt er und prahlt: „Ich habe fünf Jungen. Sie sind wie Ehefrauen für mich.“

„Vergewaltigung ist niemals Teil irgendeiner Kultur“

„Bacha Bazi“ heißt übersetzt Knabenspiel. Es ist ein archaisches Tun, das in Afghanistan und anderen Ländern der Region seit Jahrhunderten verbreitet ist. Reiche Männer halten sich dabei Jungen im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren, die nicht nur für sie tanzen, sondern sie auch zu gesellschaftlichen Anlässen begleiten. In vielen Fällen kommt es zu sexuellen Handlungen. Wenn ihre Herren zufrieden sind mit den Diensten, bekommen die meist aus bitterarmen Familien stammenden Knaben Geld und teure Geschenke. Der Bacha Baz, der Knabenspieler, trägt so seine finanzielle Potenz zur Schau, und wenn sein Tanzknabe noch gut aussieht oder gut tanzt, steigt sein Ansehen noch mehr.

Die Versuche, diesen Kindesmissbrauch zu bekämpfen, sind so alt wie die Anfänge des modernen afghanischen Staates. Da die meisten Knabenspieler einflussreiche Männer sind, war das nie sonderlich erfolgreich. Die Vereinten Nationen (UN) haben dennoch einen neuen Versuch unternommen. Die UN-Sondergesandte für Kinder in bewaffneten Konflikten, Radhika Coomaraswamy, hat die afghanische Polizei auf eine schwarze Liste gesetzt. Auf ihr sind Kriegsparteien verzeichnet, die Kinder rekrutieren oder sexuell missbrauchen. In Coomaraswamys Jahresbericht 2010 werden die vom Westen unterstützten afghanischen Sicherheitskräfte nun in einem Atemzug mit Al Qaida im Irak und der obskuren Lord’s Resistance Army in Uganda genannt. Das ist zwar peinlich für die Regierung in Kabul, aber weil die UN nur von der „Rekrutierung Minderjähriger“ sprechen und nicht von systematischem Kindesmissbrauch durch die afghanischen Sicherheitskräfte, kann Präsident Hamid Karzai sein Gesicht wahren. Im Kleingedruckten des Berichts herrscht aber doch Klarheit: „Manche Kommandeure auf Distriktebene umgehen den formalen Rekrutierungsprozess und heuern Jungen an, darunter auch für sexuelle Zwecke.“

„Vergewaltigung ist niemals Teil irgendeiner Kultur“, sagt Dee Brillenburg Wurth, zuständig für den Schutz von Kindern bei der UN-Mission in Afghanistan. Es sei eine Folge des Krieges, dass bestimmte Formen des Missbrauchs am Hindukusch besonders verbreitet seien. „Der Krieg verstärkt die Übel, die es überall gibt.“ Ende Januar hat die Regierung in Kabul sich mit den UN auf einen Aktionsplan geeinigt. Mit dessen Hilfe sollen die Rekrutierung von Minderjährigen und deren sexueller Missbrauch verhindert werden. Kabul verpflichtet sich, den UN-Inspekteuren freien Zugang zu allen Polizeistationen zu gewähren, auch unangemeldet. Täter sollen vor Gericht gestellt werden können.

Er galt als besonders prestigeträchtig

Dee Brillenburg Wurth ist für den Schutz von Kindern bei der UN-Mission in Afghanistan zuständig. Drei Tage nach der Vereinbarung des Aktionsplanes reiste sie in die entlegene Provinz Urusgan. „Dort wusste jeder von dem Aktionsplan“, sagt sie. Der Führer einer Stammesmiliz habe ihr berichtet, dass er sieben minderjährige Kämpfer nach Hause geschickt habe, ein lokaler Polizeichef habe ihr versichert, dass der Teejunge mit den kindlichen Gesichtszügen tatsächlich schon 22 Jahre alt sei. Frau Wurth glaubt, dass die Regierung es ernst meint, an schnelle Erfolge glaubt sie aber nicht. Die Opfer müssten um ihr Leben fürchten, wenn sie ihre Peiniger anzeigten. „Solange es kein Reintegrationsprogramm für diese Kinder gibt, können wir ihren Schutz nicht sicherstellen.“

Die Mühlen der afghanischen Justiz mahlen langsam. Das musste auch der ehemalige Staatsanwalt von Kundus, Hafizullah Khaliqyar, erleben, der das System der Bacha Bazi bekämpften wollte. Vor zwei Jahren veranlasste er zahlreiche Razzien. Dabei ließ er auch den Musiker Feruz Kunduzi festnehmen, der mit illegalen Bacha-Bazi-Videos berühmt geworden ist. Der Lautenspieler verkehrt in höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Für saftige Gagen spielt er auf Bacha-Bazi-Partys. Er blieb nicht lange im Gefängnis. Einflussreiche Männer wie Maulana Saidkhili, der inzwischen ermordete Polizeichef von Kundus, Khalil Andarabi, der Polizeichef der Provinz Fariyab, und der afghanische Vizepräsident, Mohammad Qasim Fahim, machten sich für ihn stark. Wenig später war Staatsanwalt Khaliqyar seinen Posten los. „Dieser Fall ist der Grund, warum ich noch immer keinen Job habe“, sagt er.

Wenn überhaupt einmal gegen das System der Bacha Bazi vorgegangen wird, dann trifft es meistens nur die Knaben, nie ihre Peiniger. Einem Bericht der afghanischen Menschenrechtskommission zufolge verbüßen zwölf Prozent der männlichen Insassen von Jugendgefängnissen eine Strafe wegen Homosexualität oder Ehebruchs, keiner von ihnen ist älter als dreizehn Jahre. Im Jugendgefängnis von Kundus saß bis vor kurzem ein Tanzknabe ein, der von zwei rivalisierenden Milizchefs begehrt wurde. Er galt als besonders prestigeträchtig. Der Streit eskalierte, zwei Kämpfer wurden getötet. Das brachte dem Jungen eine Haftstrafe von sechs Jahren ein. Er sei schließlich der Grund für den Mord gewesen, hieß es.

Im Krieg wurden viele Jungen entführt

Solche tödlich verlaufenden Eifersuchtsdramen gibt es immer wieder in Afghanistan, auch weil es den Knaben immer wieder gelingt, mehrere Knabenspieler gegeneinander auszuspielen. Die Sozialwissenschaftlerin Ingeborg Baldauf hat das in den siebziger Jahren am Beispiel der usbekischen Minderheit in Afghanistan untersucht. „Ein Bacha erpresst seinen Aka stets mehr oder weniger deutlich mit der Drohung, er werde ihn verlassen“, schreibt sie. Als Gründe für die Knabenliebe gelten ihr die strikte Geschlechtertrennung und der geringe Wert von Mädchen in der patriarchalischen islamischen Gesellschaft. Baldauf schätzte, dass ein Drittel der usbekischen Männer im Laufe ihres Lebens an Bacha Bazi beteiligt waren. Vor dem Krieg gegen die Sowjetunion war es üblich, dass der Vater eines Tanzknaben um Einverständnis gefragt werden musste. Im Krieg jedoch wurden viele Jungen entführt, die Mudschahedin-Kämpfer nahmen sich ihre Bachas mit Gewalt, und Knabentanz entwickelte sich zu einem beliebten Zeitvertreib für Krieger, die ihre Familien über viele Monate nicht zu Gesicht bekamen. Die Mudschahedin von damals sind heute afghanische Polizisten.

Der Legende nach waren es die Taliban, die dem Treiben zwischenzeitlich ein Ende setzten. Der frühere Taliban-Botschafter Mullah Zaeef schreibt in seinen Memoiren, erst nach der Eroberung von Kandahar durch die Islamisten sei „die alte Gewohnheit, sich Jungen zu halten und Ehebruch zu begehen“, beendet worden. In den schriftlichen Verhaltensregeln für ihre Kämpfer halten die Taliban bis heute fest, dass sie keine Jungen ohne Bart in ihre Quartiere mitnehmen dürfen. Den Islamisten geht es freilich weniger um den Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch, sondern um das Verbot von Homosexualität, die während des Talibanregimes mit dem Tode bestraft wurde.

Obwohl fester Bestandteil der Kultur, gilt Bacha Bazi als unislamisch. Das bereitet selbst einigen Beteiligten Gewissensnöte. „Ich habe meinem Kommandeur schon oft gesagt, dass man wegen des Bachas im Dorf schlecht über ihn redet“, sagt Sayed Nurullah, der Leibwächter eines Milizchefs in Kundus. „Der Kommandeur sagt, dass er die Soldaten bei Laune halten muss, damit sie das Dorf beschützen.“ Ohne den Tanzknaben würden weniger Kämpfer bei ihm anheuern, vermutet Nurullah. Der Bacha, ein elf Jahre alter Junge, sei von sich aus gekommen, sagt der Leibwächter, so wie sich schon viele Jungen aus mittellosen Familien angeboten hätten. Er habe seinen Eltern vorgelogen, dass er als Wanderarbeiter nach Iran gehe. Alle drei Monate kehre er heim, bringe seiner Familie Geld. Nurullah sieht sich selbst als Diener: „Der Junge gibt mir Befehle, er sagt, wenn ich ihm warmes Wasser zum Baden machen oder Eier kochen soll. Er will immer neue Kleider und das beste Essen. Das ist sein gutes Recht, denn wir verlangen ja auch, dass er für uns tanzt.“ Zugleich sei er für den Schutz des Jungen verantwortlich, sagt Nurullah, „damit kein anderer Kommandeur ihn entführt“.

Man will kein Aufsehen

Bei der Staatsanwaltschaft in Kundus sprechen öfters Frauen vor, die ihre Ehemänner anzeigen wollen, weil diese sich einen Tanzknaben halten. Von solchen Problemen kann auch Nurullah berichten. „Der Kommandeur gibt mehr Geld für seine Frau als für den Jungen aus, damit sie sich nicht beschwert“, sagt er. Wenn bei einem Tanzknaben der Bartwuchs einsetzt, wird er uninteressant, vielen bleibt dann nur der Weg in die Prostitution. Es kommt aber auch vor, dass die Beziehung des Knaben zum Knabenspieler ein Leben lang hält. „Wenn er loyal ist, kann er Assistent des Kommandeurs werden“, sagt Nurullah. „Oder er wird mit einer seiner Töchter verheiratet.“

In Kabul ist gerade eine Ausstellung zu sehen, die einen Tabubruch darstellen könnte. Der Fotograf Ali Batoor zeigt dort Bilder dreier Männer, die früher Tanzknaben waren und sich heute als drogensüchtige Bettler, Stricher und Auftragstänzer durchschlagen. Einer wurde entführt, ein anderer von seiner Stiefmutter vor die Tür gesetzt. Auf den Fotos sind alternde Jünglinge zu sehen, die Lippenstift und Kajal auftragen und sich mit der Pinzette die Barthaare ausreißen. Im Publikum sitzen vollbärtige Männer mit Turbanen, die die Tänzer selig oder gierig anstarren, und Familienväter, die ihre Söhne mitgebracht haben. Das Kulturhaus, in dem die Bilder gezeigt werden, hat jedoch die afghanischen Medien nicht informiert. Man will kein Aufsehen. „Er setzt sein Leben aufs Spiel“, sagen Menschenrechtler in Kabul über Ali Batoor anerkennend.

Der Polizeichef mit den Handyvideos versteht die Aufregung um die Tanzknaben nicht. Auf RTL – der Sender ist in Afghanistan über Kabel zu empfangen – habe er nackte Frauen gesehen, die sich vor der Kamera räkeln. In Afghanistan sei das undenkbar, sagt er abschätzig. „Selbst wenn wir afghanische Frauen finden würden, die bereit wären, für uns zu tanzen, würde die Regierung sofort einschreiten.“

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/missbrauch-in-afghanistan-die-tanzknaben-vom-hindukusch-1635406.html

Foto: laif

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