Was sagen Sie zu diesen Zahlen, Herr Di Fabio?

Was sagen Sie zu diesen Zahlen, Herr Di Fabio?

Die Strafverfolgung der Täter aus der Silvesternacht droht zu scheitern. Härtere Gesetze brauche das Land trotzdem nicht, sagt der Verfassungsrechtler.

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DIE ZEIT: Herr Professor Di Fabio, die massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln, Hamburg, Stuttgart und anderen deutschen Städten – waren das Momente des Kontrollverlusts des Staates?

Udo Di Fabio: Ja. Wobei ich den Begriff “Kontrollverlust” zunächst gar nicht alarmistisch oder anklagend verstehen würde, sondern rein deskriptiv. In der Silvesternacht ist es den Polizeikräften nicht gelungen, an zentralen Orten großer Städte friedlich feiernde Bürger zu schützen. Das war natürlich ein Schock. Die Polizeikräfte schienen überrumpelt, verloren vor dem Kölner Dom für einige Stunden die Kontrolle, und es wurde versucht, das Geschehen zu verschweigen. Kein Ruhmesblatt, aber auch kein Grund, den Rechtsstaat abzuschreiben.

ZEIT: Sicher, die Ereignisse waren beispiellos und neu, jedenfalls in diesem Ausmaß. Aber wie überrascht durfte der Staat sein? In Ihrem Gutachten für die bayerische Staatsregierung haben Sie schon deutlich vor Silvester nicht nur von einem teilweisen Zusammenbruch des europäischen Grenzregimes geschrieben, sondern auch von einem drohenden Kontrollverlust des Staates bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Köln, so scheint es, hat Ihnen recht gegeben.

Di Fabio: Wenn man sich die Tätergruppen anschaut, besteht ein Zusammenhang zur Migrationskrise, obwohl allzu kurze Schlüsse nicht erlaubt sind. Schutzsuchende, gerade aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet, dürfen dafür nicht in Haftung genommen werden. Aber das Risiko offener Grenzen und die fehlende Kontrolle darüber, wo Flüchtlinge untergebracht werden, sollte man nüchtern diskutieren.

 ZEIT: Je größer die Offenheit, desto größer die Risiken, die der Bürger hinnehmen muss?

Di Fabio: Unser Land will weltoffen sein, dafür steht die Mehrheit der Bürger, und das ist ein Verfassungsauftrag. Doch auch und gerade ein offenes Land braucht ein verlässliches Recht und konsequentes Vorgehen gegen den Rechtsbruch, sonst werden morgen diejenigen zahlreicher, die hermetische Abschließung fordern. Polizei und Justiz müssen so ausgestattet sein, dass sie ihre Arbeit wirksam erledigen können – und zwar in einer Gesellschaft, die unübersichtlicher und im Täterverhalten rücksichtsloser wird. Vollzugsdefizite und erkennbare Überforderung, Duldung des Rechtsbruchs untergraben das Vertrauen der Bürger in die staatliche Friedensordnung.

ZEIT: Stichwort Vertrauen: Eine Untersuchung des Bundeskriminalamts legt aktuell nahe, dass die Justiz offenbar außerstande ist, die Täter der Silvesternacht zu ermitteln und zu verurteilen. Dabei hatten genau das alle Politiker nach Köln versprochen, die “ganze Härte des Rechtsstaats”. Tatsächlich aber gab es etwa 1.200 Frauen, die zu Opfern wurden, es wurden bislang aber nur 120 Verdächtige ermittelt, verurteilt wurden bis heute nur vier Täter. Wie beurteilen Sie das?

Di Fabio: Wenn Sie sich die Tatorte ansehen, das teils chaotische Geschehen der Nacht, das Fehlen von Beweismitteln, undeutliche Zeugenaussagen, wenn Sie sich klarmachen, dass viele der mutmaßlichen Täter eben keinen gemeldeten Wohnsitz haben, dann ist das leider Gottes keine wirkliche Überraschung. Ich teile die Enttäuschung von Opfern und Bürgern, aber einen Justizskandal sehe ich nicht.

ZEIT: Vielleicht kein Skandal, aber ein massenhafter, offenkundiger Rechtsbruch wird nicht geahndet. Welches Signal sendet das an potenzielle Täter? Und an die Opfer?

Di Fabio: Das Unvermögen des Rechtsstaats, Straftaten zu ahnden, erzeugt Sorgen und Ängste, die sehr ernst genommen werden müssen. Jeder sexuelle Übergriff, sogar jeder Wohnungseinbruch ist ja ein traumatisches Erlebnis der eigenen Wehrlosigkeit. Der beruhigende Hinweis auf Polizeistatistik hilft nicht, wenn im Alltag der Menschen solche Erfahrungen gemacht werden. Ereignisse wie in Köln dürfen sich nicht wiederholen.

ZEIT: Allgemeiner gefragt: Wie variabel darf der Staat bei der Durchsetzung des Rechts sein? In Ihrem Buch Schwankender Westen schreiben Sie: “Der Bruch des Rechts ist nie nur ein Problem des Rechts.” Was heißt das?

Di Fabio: Wir haben ein liberales Strafrecht und ein liberales Strafvollzugsrecht, und das soll auch so bleiben. Vollzugsdefizite und schlechte Verwaltungskontrolle diskreditieren allerdings die Liberalität und lassen nach Durchgreifen und Härte rufen, wo professionelle Konsequenz und politische Konzeption verlangt wären. Aber es geht nicht nur um das Strafrecht. Es soll doch häufig das ausbügeln, was anderswo schiefgelaufen ist. Der offenen Gesellschaft dürfen Ordnungsverluste nicht gleichgültig sein. Das Schengen- und Dublin-System, also das gemeinsame Asylsystem der EU, hat sich in der Krise als ungeeignet erwiesen, es bedarf einer pragmatischen Reform, die auch die Eigenverantwortung der Staaten wieder anerkennt und gegebenenfalls auch einfordert. Die Anstrengungen zur anständigen Unterbringung, Verfahrensbearbeitung und zur Integration derjenigen mit Bleibeperspektive dürfen nicht nachlassen. Aber es gilt auch: Wer Schutz vor Gewalt und Verfolgung in diesem Land sucht, wird gewiss keine Einwände gegen eine Residenzpflicht erheben.

Quelle: http://www.zeit.de/2016/30/sexuelle-uebergriffe-koeln-silvester-strafverfolgung-probleme

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